Stellungnahme des Bundesverbandes Graue Panther e.V. zur Situation der Pflegebedürftigen nach Umsetzung der Tariftreueregelung seit dem 1. September 2022
Vorweg: Wir finden es völlig in Ordnung, dass die Pflegekräfte endlich einen etwas angemesseneren Lohn bekommen. Dadurch wird ihre Arbeit auch geldwert gewürdigt.
In Umsetzung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG), das im Juni 2021 verabschiedet wurde, müssen ab dem 1. September 2022 bundesweit alle Pflege- und Betreuungskräfte nach Tarif bezahlt werden.
Wir hoffen und wünschen uns allen, dass zugunsten der Pflegebedürftigen mehr Pflegekräfte in den Einrichtungen bzw. mobilen Pflegediensten verbleiben und sich mehr Menschen dafür entscheiden, einen Pflegeberuf auszuüben.
Für die Pflegebedürftigen allerdings hat die Tariftreueregelung massive finanzielle Konsequenzen.
Seit Juni häuften sich die besorgten Anfragen älterer oder behinderter Mitbürger*innen an uns, die entweder in Betreuungseinrichtungen leben oder Unterstützung durch Pflegedienste erhalten.
Sie befürchten, dass die von ihnen zu tragende Erhöhung der
Personalkosten für das Pflegepersonal ihnen den letzten Rest ihrer finanziellen Unabhängigkeit nimmt oder sogar unmöglich macht, die Pflege in dem bisherigen Umfang weiter in Anspruch nehmen zu können. Da die Sätze der Pflegeversicherung nicht angehoben wurden, müssten diese Pflegebedürftigen selbst zuzahlen. Bei niedrigem Einkommen ist das nicht häufig nicht möglich.
Also müssen Pflegebedürftige auf Teile ihrer Pflege verzichten, auch wenn sie noch so nötig wäre. Das heißt, dass ausreichende Pflege wieder nur für wohlhabendere Menschen erreichbar ist.
Einige Einrichtungen und Pflegedienste informierten im Voraus, andere erst in diesen Tagen.
Viele Einrichtungen oder Pflegedienste geben nämlich die Kosten der Lohnsteigerung zu 100 % komplett an die Pflegebedürftigen weiter. Diese sind also mit überproportional hohen Zusatzkosten konfrontiert – egal, ob sie in stationären Einrichtungen leben oder eine ambulante Pflege nutzen. Ich bin selbst „Opfer“ dieser Entwicklung und Kostenexplosion bei der Pflege meines Mannes geworden.
Von anderen Mitbürger*innen wurde uns berichtet, dass die häusliche Pflege einfach um 1 Stunde gekürzt wurde. Das wäre bei uns gar nicht möglich, da mein Mann 2mal am Tag eine neue Windel braucht (selten genug), Ich hatte den Pflegedienst schon auf das
Mindestmaß beschränkt. Wo soll ich da noch Zeit einsparen?
Diese Entwicklung ist besorgniserregend: Diejenigen Personen, die ihre eigenen Interessen selbst nicht mehr wahrnehmen können, werden überproportional zur Kasse gebeten. Dadurch geraten sie in Armut und der Anteil, der auf Grundsicherung angewiesen ist, wächst.
Es klingt mehr als zynisch, wenn manche Einrichtungen verlangen, dass die Betroffenen dann eben auf Leistungen verzichten müssen oder einen höheren Pflegegrad beantragen sollen.
Der Gipfel der Unverschämtheit liegt im Gesetz, dass die privaten Träger auf Kosten der Bedürftigen und des Staates ihre Gewinne maximieren dürfen.
Weder wird von staatlicher Seite diese Kostenexplosion gegenfinanziert noch werden den Pflegekonzernen endlich die Aktiengewinne verboten. Der Bundesverband Graue Panther e.V. fordert dies schon seit mehr als 10 Jahren und hält die wachsende Privatisierung in der Pflege für eine verfehlte Politik der Regierenden seit über 20 Jahren. Die privaten mobilen Pflegedienste, die das Leben in den eigenen vier Wänden überhaupt erst garantieren, stehen selbst mit dem Rücken zur Wand und haben keine Möglichkeit die Lohnerhöhungen anders zu kompensieren.
Wenn die Pflege zu Hause durch diese Situation nicht mehr gewährleistet ist, müssten diese Menschen in stationäre Einrichtungen verlegt werden. Wenn der Markt aber nicht die Kapazitäten bietet, die Menschen alle aufzunehmen, was dann? Sollen diese Menschen dann wegen unzureichender Pflege vor sich hinvegetieren?!
Wo bleibt da die Würde des Menschen aus §1 des Grundgesetzes? Außerdem würde die Unterbringung in stationären Einrichtungen wesentlich höhere Kosten für Sozialämter verursachen, als wenn die Pflegesätze für häusliche Pflege erhöht würden.
Es ist und bleibt die Verantwortung des Staates, durch Gesundheitsfürsorge und Pflegepolitik eine flächendeckende und bezahlbare Daseinsvorsorge für seine Bürger*innen zu gestalten und umzusetzen.
Es ist schon 10 Minuten nach 12. Die Pflegebedürftigen und ihre pflegenden Angehörigen können nicht einfach warten. Sie brauchen die Hilfe sofort!
Göttingen am 2. Sep. 2022
Ursula Lallmann
(Vizepräsidentin und Opfer dieser Politik)