Eine Essener Krupp-Sekretärin warnte vor 40 Jahren erstmals vor Altersarmut. Sie forderte die Mindestrente und wurde zur Speerspitze der Senioren
von Dietmar Seher
Von lieber Oma keine Spur. Manchem erschien Trude Unruh vielleicht noch wie eine pensionierte Oberstudienrätin. Wer ihr zu nahe kam, merkte schnell: So muss 1789 die Marianne der Französischen Revolution gewütet haben. Widerspruch duldete sie nicht. Nie. „Quatsch“, fertigte Trude Journalisten ab, wenn die aus ihrer Sicht zu dämlichen Fragen stellten. Proteste von Politikern gegen ihre Klagen über „Altersarmut“ und ihre Forderungen nach der „Mindestrente“? Das konterte sie im Kasernenhofton. „Seid still. Hört zu!“, fegte sie zurück. Mit Ausrufezeichen. Denn, bitte schön, nichts anderes wollte sie doch: Ein besseres Leben für alle über 65.
Unruh, die Kämpferin für die Rechte der Senioren, würde an diesem 7. März einhundert Jahre alt. Fast hätte die 1923 in Essen als Trude Kremer unehelich geborene Frau und gelernte Sekretärin im Krupp-Konzern, den immer noch sehr seltenen und sehr runden Geburtstag erlebt. Erst vor drei Jahren ist sie hochbetagt gestorben. Aber auch so hatte sie genug Zeit und vor allem den Biss, der bundesdeutschen Politik ihren nachhaltigen Stempel aufzudrücken.
Sie war es, die in den 1970er Jahren den heute noch aktiven Seniorenschutzbund und Ende der 1980er auch „Die Grauen“ gegründet hat, die zugehörige Partei. Altersarmut? Mindestrente? Es waren solche Begriffe, die sie auf die öffentliche Tagesordnung setzte. Sie hat in Wuppertal, wo sie wohnte, die ersten „Schutzwohnungen“ für Pflegebedürftige eingerichtet. Vorher gab es solche Mittelwege zwischen einsam machender Single-Altenwohnung und Massenbehandlung im Pflegeheim gar nicht.
Bonn im Sommer 1989. Der regierenden schwarz-gelben Koalition von Helmut Kohl und auch Grünen und SPD wird unwohl. Draußen im Land wird gerade die etablierte Parteienlandschaft aufgemischt. Auf der rechten Seite feiern die Republikaner des Franz Schönhuber mit dem Einzug in mehrere Landtage und bei der Europawahl Erfolge. Auch das Entstehen einer eigenen Autopartei zeichnet sich ab. Und jetzt kommt noch dieser Aufstand der Alten dazu, mit einem Wählerpotenzial von 14 Millionen Rentnern bundesweit und einer Frau an der Spitze, der große Zuspruch in ihrer Klientel findet. Das Ganze mit einem überaus hohen Bekanntheitsgrad.
Unruh hat die Öffentlichkeit immer gesucht, aber auch den politischen Einfluss. So hatte sie schon 1983 mit den Grünen ein Abkommen geschlossen, zog für sie ins Parlament als parteilose Abgeordnete ein und durfte ans Rednerpult, auch wenn der Grüne Helmut Lippelt bald die „äußerst komplizierte Psychostruktur“ der Dame beklagte. Im August des Mauerfall-Jahres lässt die Panther-Dompteuse, die in jüngeren Jahren Mitglied bei SPD und FDP und einer Ökogruppe war, auf dem ersten grauen Parteikongress im Münchner Hofbräuhaus ein 20-Punkte-Programm beschließen, niedergeschrieben von Ehemann Helmut. 1400 Mark im Monat netto für alle Alten wird da verlangt. Kein Pfennig weniger. Das entspricht der damals geltenden Mindestpension der Beamten. Ein generelles Tempolimit auf Autobahnen. Die Chemie abschalten. Ja zur Abtreibung. Keine Mark mehr für die Rüstung. So radikal gehen die Panther ran. „Es waren Konservative und Linke dabei. Das ist so, wenn man für soziale Rechte kämpft“, erinnert sich Erika Lohe-Saul. Um die 30 war sie da und von solchen Forderungen überzeugt. Sie ist Unruhs Partei beigetreten. „Wir haben in Wuppertal die Schwebebahn besetzt und waren auch gegen die Pershings. Wir nannten uns Wasserwerfer“.
Lohe-Saul lebt heute in Göttingen. Sie ist Vorsitzende des Seniorenschutzbundes, der bundesweiten Dachorganisation zahlreicher regionaler Seniorenvereinigungen, der in diesem Jahr neben Unruhs 100. Geburtstag sein eigenes 50jähriges Bestehen begehen wird. Sie erzählt uns die Geschichte der großen Gründermutter aus der Sicht einer Babyboomerin, derjenigen Generation also, die jetzt aufs Altenteil rutscht. Sie sei immer noch „Fan“ der Arbeit von Trude Unruh, sagt sie. „Wenn sie nicht so radikal und polemisch den Finger in die Wunde gelegt hätte, wäre vieles überhaupt nicht passiert“ und „viele ältere Menschen heute noch nach dem ersten Schlaganfall Freiwild und entmündigt“. Auf Druck Unruhs sei es zum „Vormundschaftsgesetz“ gekommen, dem heutigen und gerade wieder novellierten Betreuungsrecht. Und Lohe-Saul stellt fest: „Einen Pflegestützpunkt vor dem Jahr 2000 haben sie in keinem Bundesland gehabt. Dass dies heute anders ist, das ist die Folge der Unruhe, die Trude geschaffen hat“.
Die aktuelle Schutzbund-Chefin umreißt damit auch ein Stück der wilden Entstehungsgeschichte der Panther-Bewegung. Wie Unruh dazu kam, sich so zu engagieren? 1973 war das, in einem Schockmoment. Eine nahe Verwandte habe man „in ein 20-Betten-Zimmer in Neviges gestopft. Sie hat das entsetzt“, weiß Lohe-Saul. Auch Jutta Jaura hat lange an der Spitze der Organisation gearbeitet und kannte die Gründerin sehr gut: „Schon gleich zu Anfang ging es darum, dass einer Mutter mit fünf Kindern, die unter psychischen Problemen litt, die Wohnung behördlicherseits entzogen wurde. Statt ihr einen Sozialarbeiter zur Seite zu stellen, wurde sie zwangsweise in ein Pflegeheim eingewiesen und von ihren Kindern getrennt“. Da hätten auch jüngere Mitstreiter geahnt, wie Behördenwillkür aussehe, was sie gegebenenfalls später erwartet und sie seien auf die Straße gegangen.
Mit Aufsehen erregenden Aktionen und Demonstrationen arbeitete sich Unruhs Schutzbund in die Schlagzeilen. „Wir lassen uns nichts gefallen“, war die Linie der früheren Krupp-Sekretärin – und ihr Klartext der des Ruhrpotts wie bei einer Debatte über Behindertenrechte: „Die wollten mir wirklich mit dem Slogan kommen: Behindert sein ist schön, Beine ab und doch ein Auto. Wenn ich dat meinen Leutchen erzähl, sagen die mir, du hast einen Vogel, Mutter“. Ende der 1980er Jahre registrierte die Vereinigung 30 000 Mitglieder und 170 Außenstationen.
„Leider“, so Lohe-Saul, sei die ab 1990 parallel arbeitende Partei bei den Bundestagswahlen gescheitert, mit halbprozentigem Anteil bei den Wählerstimmen. Mauerfall und Einheit beherrschten plötzlich das Debattenklima, was den „Grauen“ mit ihren sozialen Anliegen wenig Chancen ließ. Dazu kamen in den Folgejahren interne Streitigkeiten und gerichtliche Auseinandersetzungen. Es ging meist um Geld. Unruh muss einem „schwarzen Schaf“ in der Panther-Truppe zu sehr vertraut und dies später bereut haben. Auch hatten die Bundesgrünen ein Darlehen für den Bau eines Altenwohnungs-Komplexes in Wuppertal gegeben und verlangten 160 000 Mark nach der Parteigründung zurück. Gesundheitliche Probleme der Gründerin erschwerten alles. Trude Unruh erlitt einen ersten Schlaganfall, was nach außen länger verschwiegen wurde. 2008 trat sie zurück.
Die Panther-Partei gibt es nicht mehr. Die „Grauen“ als Seniorenschutzbund kämpfen nach wie vor. Ihre Schwerpunkte haben sich etwas verschoben. Aufklärung ist heute einer davon, dies möglichst in verständlicher Sprache. Der jüngste aus dem Dezember-Infoblatt, angeregt von Mitgliedern: Wie Angehörige, die ihre alten Leute pflegen, an die gesetzlich vorgesehene Entlastungshilfe kommen. Nach solch getaner Arbeit hätte Trude gesagt: „Dann nehmen wir uns schön ein paar Bierkes zur Brust“.