Ein Gastkommentar mit freundlicher Genehmigung von Hanne Schweitzer Büro gegen Altersdiskriminierung
Das folgende Beispiel einer Beschwerde über digitale Diskriminierung ist keine Entscheidung, die von Algorithmen getroffen wurde. Es sind leibhaftige Menschen, die in Ministerien arbeiten und eine Benachteiligung von MitbürgerInnen in Kauf nehmen und veranlassen. Vielleicht, weil sie die Digitalisierung mit der Brechstange durchsetzen wollen. Sicher aber ohne Rücksicht auf Leute ohne Smartphone, Rechner oder Kenntnisse für das Ausfüllen von Online-Formularen.
Anlass für die massenhafte digitale Diskriminierung insbesondere der älteren BürgerInnen ist ein im Dezember 2022 gefasster Beschluss des Bundestags. Er besagt, dass allen Haushalten und Gewerben, die 2022 mit nicht leitungsgebundenen Energieträgern (Heizöl, Flüssiggas (LPG), Holzpellets, Holzhackschnitzel, Holzbriketts, Scheitholz oder Kohle/Koks) geheizt haben, 80 Prozent der Mehrkosten erstattet werden, die über die Verdoppelung eines festgelegten Referenzwertes hinausgehen.
1. Frau M. ist stinksauer
Sie wollte einen Heizkostenzuschlag beantragen. Die Möglichkeit dazu war ja lauthals überall verkündet worden. Frau M. hat alle Voraussetzungen für einen Antrag geprüft. Alle treffen zu. Das Ehepaar M. hat das Einfamilienhaus im Jahr 2022 mit Heizöl geheizt. Die Rechnungen des Lieferanten sind vorhanden und das Haus steht in NRW. Frau M. hat aber in der Nachbarschaft läuten hören, dass der Zuschuss nicht mit einem Papierformular, sondern online beantragt werden muss. Deshalb bittet sie die Tochter, die einen Computer hat, den Antrag für die Eltern zu stellen.
Frau M. fährt zur Tochter. Diese ruft die Webseite des NRW-Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung auf, das von Ministerin Scharrenbach (CDU), geleitet wird. Sie liest:
„Schritt für Schritt zu Ihrem ausgefüllten Antrag.
Prüfen Sie auf dieser Website, ob Sie Anspruch auf einen Zuschuss zu Ihren Heizkosten haben. Die zu erwartende Höhe des Zuschusses können Sie mit dem auf dieser Seite bereitgestellten Rechner schnell und einfach berechnen. Je nachdem ob Sie für sich selbst oder andere Personen beantragen, stehen Ihnen unterschiedliche Rechner für Privatpersonen sowie Vermieterinnen und Vermieter oder Wohneigentumsgemeinschaften zur Verfügung. Von der Berechnung können Sie direkt in die Antragstellung übergehen.“
Tochter, Akademikerin, denkt: Schlechtes deutsch „in die Antragstellung übergehen“, egal, es hört sich an, als ob es schnell geht.
„Melden Sie sich sicher mit Ihrer bund.ID oder Ihrem ELSTER-Unternehmenskonto an. Sie können dabei viele Felder bereits vorausgefüllt übernehmen.
Tochter wird unsicher. Sie weiß nicht, was eine bund.ID oder ein ELSTER-Unternehmenskonto ist. Liest weiter.
„Wenn Sie noch keine bund.ID oder kein ELSTER-Unternehmenskonto besitzen können Sie kostenfrei ein bund.ID-Konto oder ein ELSTER-Unternehmenskonto erstellen. Für die Erstellung eines bund.ID-Kontos benötigen Sie ein ELSTER-Zertifikat oder Ihren Online-Ausweis.“
Tochter zunehmend empört: Die erwarten von mir, dass ich meine Lebenszeit für umme mit dieser Digitalkacke vertue, ich bin doch nicht deren O/1-Sklavin!“ „Mama, tut mir leid, aber ich kann das nicht. Wie soll ich denn ein „ID-Konto“ anlegen, und wie soll ich die „Rechnungen und Zahlungsnachweise für gekaufte Energieträger mühelos als PDF-Dokument oder Foto hochladen“? „Mühelos! Hast du gehört! Hast du deine Kontoausweise dabei? Hast du einen elektronischen Perso?“
Frau M.: Kind, reg dich nicht auf, ich kann doch nichts dafür und ich hab` mich schon genug über diese Unverschämtheit geärgert. Die Regierung behandelt Leute, die keinen Computer haben, wie Bürger 2. Klasse. Die Alten sind nichts mehr wert, für uns haben sie schon die Löcher ausgegraben.“
Tochter liest weiter: „Sie können sich auch von einer dritten Person mit bund.ID oder ELSTER-Unternehmenskonto vertreten lassen.“
Tochter erleichtert: „Mama, ich kann das gar nicht machen, nicht weil ich nicht weiß, wie das gehen soll sondern weil ich keine bund.ID habe. Wir brauchen jemanden mit einer bund.ID! Dann sollte es funktionieren.“
Frau M.: „Ja und wo kriegen wir denjenigen her?“
Tochter: „Mama, setz dich ans Telefon, ruf alle an, auch im Verein. Irgendwer wird diese bund.ID schon haben.“
Frau M.: „Was geht das fremde Leute an! Diese Regierung ist wirklich das Letzte, wenn man ein Hirn hat, dreht man durch, bei dem was hier passiert.“
Eine Nachfrage bei der Hotline des verantwortlichen NRW-Ministeriums ergibt: Die Problematik ist bekannt. Eine Änderung des Verfahrens ist nicht beabsichtigt. Man könne sich telefonisch Schritt für Schritt durch die Angaben leiten lassen, die für die Bearbeitung des Antrags notwendig sind. Kostenpflichtiges Telefon dafür: Tel. 0211 8618 4040 Computerkenntnisse, Smartphone oder Computer braucht man trotzdem. Ebenso, wenn man das angebotene Hilfeformular benutzen will. „Fragen, Unsicherheiten, (technische) Probleme?“ heißt es auf der Webseite und: „Schreiben Sie uns und wir finden eine Lösung!“ Das Schreiben geht aber nur per Mail. Im Online-Formular, das erscheint, wenn man den link Link aufruft, wird u.a. gefragt nach dem „Aktenzeichen“ (???) und man wird ermahnt: „Bitte achten Sie auf das korrekte Format, z.B. NLE.02.23.04-12345“ (???)
In Nordrhein-Westfalen gibt es laut Ministerium bis zu 1,2 Millionen antragsberechtigte Haushalte, die ihr zu Hause 2021 mit Heizöl, Flüssiggas, Holzpellets, Holzhackschnitzeln, Holzbriketts, Scheitholz und Kohle/Koks geheizt haben.
Sie könnten von der Bundeshärtefallregelung profitieren, wenn sie das online-Antragsverfahren hinkriegen oder jemanden finden, der das für sie übernimmt. Ganz bewusst und ohne Not werden aber viele, vor allem ältere BürgerInnen durch digitale Barrieren von der Beantragung des Heizkostenzuschusses ausgeschlossen. :-I
Bund finanziert, Bundesländer entscheiden über Details der Antragstellung
Zur Finanzierung der Heizkostenzuschüsse leiht sich der Bund beim Wirtschaftsstabilisierungsfonds bis zu 1,8 Mrd. Euro. Um die Härtefallanträge zu bearbeiten, nutzen 13 Bundesländer (Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen) eine Antragsplattform der Hamburger Finanzbehörde „Kasse.Hamburg“ (DRIVEPORT). Bayern, Berlin und NRW beschäftigen ihre eigenen Onlineplattformen. Als Höchstbetrag werden auf einen Antrag 2000 Euro ausgezahlt, der Minimalbetrag liegt bei 100 Euro plus. Die Auszahlung der Zuschüsse erfolgt in den meisten Bundesländern über die Landesbanken.
Weitere Fallbeispiele auf den Seite https://www.altersdiskriminierung.de/themen/artikel.php?id=10840